José Manuel Barroso sprach von einem «grossen und mutigen Plan»: Der EU-Kommissionspräsident hat gestern in Brüssel seine Antwort auf die drohende schwere Wirtschaftskrise präsentiert. Er plädierte für ein europäisches Konjunkturprogramm im Umfang von 200 Milliarden Euro: «Das ist eine realistische Summe, eine Summe, die wirklich etwas bewegen kann.» Die 200 Milliarden Euro entsprechen rund 1,5 Prozent des Bruttosozialprodukts aller 27 Mitgliedsstaaten.
Den überwiegenden Teil des Geldes müssen allerdings die EU-Mitglieder selber aufbringen. Im Gegensatz zu einem Staat kann die EU keine Schulden machen, und auch der EU-Haushalt ist auf Jahre hinaus fest verplant. Das Programm aus Brüssel ist also vor allem ein Forderungskatalog an die Mitgliedsstaaten. An sie appelliert Barroso, mehr Geld auszugeben. Konkret sollen sie den Löwenanteil von 170 Milliarden Euro in nationale Konjunkturprogramme stecken. Die EU-Kommission zählt einige Optionen auf: Das Geld könnte in Strassen- und Schienenprojekte oder in Umweltprojekte fliessen. Die Staaten könnten Lohnnebenkosten senken und Steueranreize für Gebäudeisolation oder Energieeffizienz in Firmen schaffen. Die restlichen 30 Milliarden Euro aus Mitteln der EU-Kommission und der Europäischen Investitionsbank (EIB) sollen vor allem der angeschlagenen Automobilbranche bei der Umstellung auf umweltfreundlichere Fahrzeuge helfen.
Länder sollen Schulden machen
Für Brüssel ist es eine eigentliche Kehrtwende. Sonst werden Mitgliedsstaaten von der EU-Kommission ermahnt, auf Haushaltsdisziplin zu achten, ihre Finanzen in Ordnung zu halten und staatliche Interventionen zurückzubinden. Nun sollen sie Schulden machen und die Wirtschaft mit staatlichen Impulsen vor dem Absturz bewahren. Mitgliedsstaaten können so zumindest vorübergehend auf Nachsicht hoffen, wenn ihr Haushaltsdefizit drei Prozent des Bruttosozialprodukts überschreiten sollte.
Eine aussergewöhnliche Situation verlange nach aussergewöhnlichen Massnahmen, sagte Barroso. Er präsentierte sich als eigentlicher Initiator des europäischen Konjunkturprogramms. Einige der Vorschläge sind aber nicht neu, sondern nur neu verpackt. So will die Kommission Kleinunternehmen von Bürokratiekosten entlasten oder den Ausbau grenzüberschreitender Strom-, Gas- und Internetverbindungen beschleunigen. Brüssel will zudem Gelder aus dem europäischen Kohäsionsfonds für Projekte in ärmeren Regionen schneller zur Verfügung stellen.
Die Initiative aus Brüssel ist ein Versuch, den Streit zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten ums «richtige» Konjunkturprogramm in den Hintergrund zu rücken. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy drängte darauf, mit der grossen Kelle anzurichten, Grossbritanniens Premier Gordon Brown sieht die Lösung in Steuersenkungen, und Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel rät überhaupt zur Zurückhaltung. Die drei Länder haben ihre nationalen Konjunkturprogramme ohnehin schon in den letzten Tagen ohne Rücksprache mit Brüssel bekanntgegeben.
Streit um den richtigen Weg
Die bereits angekündigten Wachstumspakete der einzelnen Länder sollen auf das 200-Milliarden-Programm der Kommission angerechnet werden, sagte Barroso. Er liess jedoch durchblicken, dass er von der grössten Volkswirtschaft der EU einen stärkeren Beitrag erwartet: «Wir übererfüllen unser Soll», kam prompt die Absage aus Berlin. Die EU-Kommission kommt spät mit ihrem eigenen Programm, das den Eindruck der Kakofonie und der nationalen Flickenteppiche überdecken soll. Ziel sei keine einheitliche Therapie, sondern eine Koordination der nationalen Programme, wies Barroso Kritik zurück. Er bezeichnete das Brüsseler Konjunkturprogramm als «Werkzeugkasten», aus dem sich jeder Mitgliedsstaat bedienen könne: «Wir leiden alle, aber wir brauchen nicht alle die gleiche Behandlung.»